Über Geflüchtete zu sprechen, bedeutet leider zu oft, nur über Zahlen zu sprechen. Die Medien berichteten uns von bis zu 20.000 Menschen, die im März 2020 in Moria lebten. Für uns Europäer ist es leicht zu vergessen, dass es sich dabei um 20.000 individuelle Menschen mit 20.000 individuellen Geschichten handelt. Es ist einfach zu abstrahieren und Entscheidungen zu treffen, wenn wir nur mit Zahlen arbeiten.
Aber wer sind diese 20.000? vsbl ist ein Projekt, das versucht, dieser anonymen Zahl etwas Greifbares entgegen zu stellen. Die 20.000 Menschen sichtbar zu machen. Gesichter, Stimmen und Gedanken derer zu zeigen, die uns an einem aussichtslosen Punkt ihres Lebens um Hilfe bitten.
In diesem Projekt treffen wir einige von ihnen. Zufällig, wie bei einer Begegnung. Jede und jeder erzählt seine oder ihre persönliche Geschichte. Es sind viele. Gesichter und Geschichten verschwimmen mit jeder weiteren Betrachtung immer mehr. Setzen sich bei jedem erneuten Besuch anders zusammen. Kein einziges Erlebnis ist wiederholbar, ein Zufallsgenerator bestimmt Reihenfolge und Zusammensetzung der Begegnungen. Der Moment des Zufalls ist Teil des Ganzen, so wenig kontrollierbar, wie eine zufällige Begegnung. Irgendwann können wir sie nur noch schlecht auseinanderhalten. Haben wir diese Geschichte nicht schon gehört? Oder eine ähnliche? Ist das ein anderer Mensch als eben oder derselbe? Welche Geschichte gehört zu wem?
Die Portrait-artigen Videos sind viel lebendiger als Fotos es sein könnten. Die Begegnung mit den Protagonist*innen ist sehr unmittelbar, mitunter fast zu nah, für Augenblicke voyeuristisch. Wir erleben direkt die Anspannung des Gegenübers, das verschämte Wegsehen, lachen müssen, nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen oder posieren für die Kamera. Auch ein abruptes Umdrehen, wenn es zuviel wird. Da sind keine Abbilder, sondern Menschen im Spannungsfeld eines intimen Augenblicks und unüberbrückbarer Distanz. Die Betrachterin schwankt zwischen echtem Interesse für den bzw. die einzelne und einer Vielstimmigkeit, die es so leicht macht, wegzuhören.
vsbl gibt jedem jederzeit die Chance, es noch einmal zu versuchen. Eine neue Begegnung zu wagen. Diesmal genau hinzusehen. Genau zuzuhören. Als Mensch, der Menschen begegnet, die um Hilfe bitten.
Diese direkte Menschlichkeit kann am Ende die „Zahl“ vielleicht ein wenig auflösen, um an ihrer Stelle Verständnis und eine emotionale Verbindung entstehen zu lassen.
Dieses Projekt wurde durch ein Stipendium vom Land NRW unterstützt und ermöglicht.
Künstlerin / Entstehungsjahr:
vsbl ist ein Projekt von Anne Barth (https://annebarth.de) und entstand im Spätsommer 2020.
Bezug zum open Call:
vsbl betrachtet Europa aus einem, evtl für Europäer*innen unbequemen Blickwinkel. Es geht um Humanität, Gesellschaft und Gemeinschaft. “„Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht.“ sagte Helmut Kohl. In vsbl sprechen die Schwächsten, die, die am Rande von Europa stehen. Es kommen diejenigen zu Wort, die in europäischen Berichten viel zu häufig nur in Statistiken auftauchen. Wenn das die europäische Gegenwart ist, wie wird dann die Zukunft sein? Und ist es nicht an der Zeit, dies zu beeinflussen?
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