„Engelchen flieg!“, das sagte mein Opa immer wieder zu mir, wenn wir vor seinem Mittagschlaf zusammen „Blödsinn“ machten, ich auf seinem Bauch herumhüpfen durfte und er mich nach oben warf und wieder auffing. Wenn ich an die schöne Zeit mit meinem Opa zurückdenke – der eigentlich ein verschlossener und ernster Mensch war – fallen mir diese kurzen Pausen ein, die etwas ganz Besonderes waren, da er in solchen Momenten nur für mich ganz allein da war. Mein Opa hatte ein kleines Maßatelier für Herren- und Damenmode, arbeitete 364 Tage im Jahr und hatte eigentlich nie Zeit für uns. Diese für mich damals schon spürbar „geklauten Minuten“ habe ich schon als 5-Jährige als etwas ganz Wertvolles empfunden.
Ich erinnere mich, wie ich als Kind den auf mich unendlich lang wirkenden dunklen Gang zu seinem Atelier entlangging und vorsichtig die verschlossene Türe in ein für mich faszinierendes und fremdes Reich öffnete: Im hellen Gegenlicht saß mein Großvater im Schneidersitz auf seinem riesigen Arbeitstisch aus Holz und nähte mit regelmäßigen Stichen an seinen Säumen, Kleidern, Anzügen und Hüten. Er hob bei meinem Eintreten weder den Kopf noch begrüßte er mich. Es war ein stilles Übereinkommen zwischen uns beiden. So wanderte ich möglichst leise in dem großen Arbeitszimmer umher, um ihn ja nicht zu stören. Das machte mir aber nichts aus, denn so konnte ich in aller Ruhe mein Lieblingsbild an der rechten Wand des Ateliers betrachten: Ein wunderschöner Engel und ein alter Mann waren darauf zu sehen – ich kannte damals die Ikarus-Sage noch nicht. Ich glaubte felsenfest daran, dass der Himmelsbote mit seinen wunderschönen Flügeln immer auf meinen Opa aufpassen würde und auch ganz sicher all meine Wünsche erfüllen würde.
Heute hängt das Bild in unserem Flur und ich glaube immer noch ganz fest an seine beschützende Kraft.
Druck von John Watts nach Sir Anthony Van Dyck, 1778.