Dagmar Hugk – www.dagmarhugk.de
Für das Ausstellungsprojekt „Willkommen im Paradies“ reiche ich meine fotografisch-installative Arbeit „syntheticum maximum“ ein:
Vier Kunststoffbanner (s. Abbildungen) hängen im Ausstellungsraum, je nach Ausstellungssituation versetzt hintereinander gestaffelt oder im Winkel zueinander. Die Besucher und Besucherinnen können zwischen ihnen hindurchgehen. Die Banner sind mit unterschiedlichen Fotografien geflechtartiger Strukturen bedruckt. Die Geflechte sind ausgeschnitten, so dass sich die Elemente optisch überlagern und, je nach Perspektive der Betrachtenden, immer unterschiedliche Bilder im Raum entstehen (s. digitale Skizze).
Das nähere Betrachten der Fotografien wirft die Frage nach der Realität des Dargestellten auf.
Die Aufnahmen erinnern an die Struktur von Zweigen oder an medizinische Visualisierungen aus dem Inneren menschlicher Körper, an ein Grundgerüst für ein Lebenselixier, das sowohl in der Pflanzenwelt als auch im menschlichen Adersystem zu finden ist.
Doch das organisch Anmutende ist synthetisch hergestellt. Dem genauen Blick wird offenbar, dass es sich bei den fotografierten Gebilden nicht um Elemente, die der Wirklichkeit entstammen, sondern um Modelle fiktiver Organismen handelt. Die Grenzen zwischen dem Realen und dem Künstlichen verschwimmen.
Angesichts steigender technischer Möglichkeiten und Innovationen wie etwa CRISPR/Cas nimmt künstlich gestaltetes Leben stetig zu. Man hofft, den Lebenskreislauf möglichst lange vor der Zerstörung zu bewahren, den Tod durch die Eliminierung von Krankheiten aufzuschieben. Man erhält die Möglichkeit, unsere Körper zu verändern und bereits vor der Geburt das Leben zu perfektionieren. Der Mensch probiert das, was er an Vielfalt im Kreislauf der Natur zerstört, künstlich wieder zu reparieren.
Wohin führen diese Manipulationen der Natur? Was bedeuten sie für unser Menschsein? Wird das Leben beherrschbarer, sind wir weniger den Unwägbarkeiten der Natur ausgesetzt? Was für neue Unwägbarkeiten produzieren unsere Eingriffe? Wie begegnen wir den Folgen gesellschaftlich und politisch?
In meinen fotografischen Arbeiten beschäftige ich mich mit menschlichen Eingriffen in natürliche Systeme und deren Deformationen sowie der daraus resultierenden Frage nach der Konstruktion von Wirklichkeit. Die früheren Werke sind analog entstanden, indem ich gebaute Modelle – fiktive Hybride aus der Pflanzen- und Tierwelt – in die Natur implantierte und fotografierte. In den Arbeiten der letzten Jahre sind die organischen Formen separat fotografiert, anschließend ausgeschnitten und zu raumgreifenden Installationen montiert.
Technische Details zur vorgeschlagenen Arbeit:
Die Anordnung der Banner im Raum ist flexibel; sie richtet sich nach der räumlichen Situation.
Die vier Einzelelemente haben jeweils eine Größe von 280 x 190 cm. Das Gewicht jedes Elements beträgt ca. 3 Kilogramm.
Die Banner sind an der Oberseite mit Klettband an einem weiß gestrichenen Vierkant-Aluminiumrohr befestigt. Unten beschwert eine schmale Leiste das Banner, sodass es glatt im Raum hängt.
Die Arbeit kann wahlweise von der Decke abgehängt werden oder zwischen den beiden gegenüberliegenden Wänden verspannt werden. Im zweiten Fall verläuft ein Stahlseil durch das Rohr, welches in der Wand verankert ist, um das Durchhängen des Aluminiums zu verhindern.
Weblinks
Hypothetische Erfahrung
Ich bin umschlossen. Um mich herum zieht sich ein Netz. Verästelungen bahnen sich ihren Weg in alle Richtungen. Verbinden und trennen sich. Legen sich um, vor und hintereinander. Während der fokussierte Blick unzählige Ebenen an Verflechtungen durchdringt, verschwimmen die einzelnen Verflechtungen im Augenwinkel zu schillernden Fronten. Die Farben der Verflechtungen reichen von dunklem Rot über diverse Abstufungen zu hellen Rosatönen. Teils werden sie von weißen Spuren durchzogen. Ich blicke in einen Wald aus Blutgefäßen. Ich bin umschlossen von einer Struktur, eine Struktur die meiner ähnlich ist. Ist sie das wirklich? Will sie das sein? Will sie überhaupt? Ich kenne meine Struktur nicht. Ich bin meine Struktur, meine Struktur ist mein Sein. Hat die Struktur um mich ein Sein? Wessen Sein ist sie? Ich höre mein Blut in meinen Ohren rauschen, fühle das Pulsieren meiner Adern im Rhythmus meines Herzschlags. Ist es mein Rauschen, mein Pulsieren oder ist es das der Adern, die sich um mich spinnen? Ich bin ein Organismus umgeben von einem Organismus. Tissue in Tissue. Mein Atem wird schwer als würde die Struktur um mich ihn mir rauben um ihn für sich zu nutzen. Braucht sie ihn zum Pulsieren, wie der Mensch selbst? Oder bin ich es, die der Struktur den Atem raubt? Ein näherer Blick lässt das Rauschen und Pulsieren verschwinden. Vor mir erstreckt sich ein verflochtener eindimensionaler Kunststoffvorhang. Er hat keine Tiefe, lässt keinen Blick in Ebenen von lebenleitenden Kanälen zu. Ist nicht organisch sondern synthetisch. Kein Organismus, kein Tissue. Und trotzdem ist die Struktur ähnlich. Ist sie eine Illusion oder eine Voraussage? Ein utopisches Versprechen oder eine dystopische Warnung?
A. Sailer
Der vorangehende Objekttext bietet einen subjektiven Vorschlag/ Ansatz der Autorin und wurde von der Künstlerin weder in Auftrag gegeben noch autorisiert. Er ist im Kontext des Seminars „On Co-Curation. Theorie und Praxis des Kritischen Kuratierens in Kooperation mit previous.nextmuseum.io” entstanden, welches im WiSe 20/21 im Fachbereich Kunstgeschichte von Frau Svetlana Chernyshova und Frau Alina Fuchte an der Heinrich Heine Universität angeboten wurde.