Fotografie, Mixmedia, 2020/2021
Ich lebe im Leipziger Osten direkt an der Eisenbahnstraße. Das Viertel ist durch vielerlei geprägt: Zum einen leben hier über 5o Nationen zusammen auf engen Raum, darunter Geflüchtete und viele Migrant*innen. Beeinflusst ist das Viertel ebenfalls von politischen Initiativen, der Antifa, zivilgesellschaftlichem Engagement und einer hippen jungen, kreativen alternativen Szene. Demgegenüber stehen Gentrifizierungsprozesse, Abschiebungen und weitere staatliche Repressionen, wie beispielsweise die Waffenverbotszone, wodurch sich ungleiche Verhältnisse zwischen staatlicher Macht und Zivilgesellschaft ausdrücken – eine Stigmatisierung des Viertels gegen die sich Widerstand regt. Deshalb greift ein Teil der hier lebenden Menschen zu Mitteln der Selbstermächtigung im öffentlichen Raum, die ihrerseits bekämpft, ironisiert oder von der Zeit überschrieben werden. Zeichen der Vorstellung eines weltoffenen Europas, der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und einer Welt ohne Rassismus sind anhand dieser Interaktionen im urbanen Raum ablesbar.
Die vorliegenden Bilder sind Teil der Arbeit „ Ringen um Raum“ , die sich mit der Vereinnahmung des öffentlichen Raums im Leipziger Osten für politische Botschaften in Form von wilden Plakaten, Graffiti und anderen Interventionen beschäftigt. Ringen schließt in diesem Kontext verschiedene Deutungen ein: Zum einen ist es ein Ringen um linke Narrationen, die hinterlassen im öffentlichen Raum, Gegenreaktionen erzeugen und teilweise überschrieben/ überklebt werden, aber auch natürlicher Verwitterung ausgesetzt sind.
Angesichts fortschreitender Gentrifizierungsprozesse meint ein Ringen ebenso den konkreten Kampf um Raum als Brach- und Wohnungsfläche. Ein ungleicher Streit, der sich seinerseits in zivilgesellschaftlichen und linkem Engagement durch Kunststrategien im öffentlichen Raum widerspiegelt, wie beispielsweise an der Brache in der Eisenbahnstraße, wo Puppen aus Protest gegen Privatisierungsvorhaben installiert worden sind.
Das dritte Ringen ist ein persönliches Ringen um den Farb- und Gestaltungsraum der von mir angeeigneten Plakate. Es betrifft die sensible Überarbeitung der Materialien, die dadurch eine räumliche Wirkung oder Objektcharakter erhalten. Je nach Material werden im kollektiven Gedächtnis verankerte Motive aus der Kunstgeschichte zitiert, beispielsweise der Koloss von Goya (der als Antigewaltbild kunstgeschichtlich interpretiert wird) oder Kunststile aufgegriffen (Dadaismus, Expressionismus etc.), um die jeweilige politische Botschaft neu zu kontextualisieren und die Materialien zu sublimieren. Während die Plakate einem künstlerischen Transformationsprozess unterzogen werden, dokumentiere ich die politischen Interventionen und Reaktionen, die sie hervorrufen sowie die Verwitterungsprozesse, denen sie ausgesetzt sind. Durch die Entnahme aus ihrem ursprünglichen Kontext und Neukombination der einzelnen Arbeiten/ Medien in der Präsentation entstehen neue assoziative Anknüpfungsmöglichkeiten und Interpretationsräume. Es zeigt sich: ein Ringen um Raum ist auch ein Ringen um Zeichen, Meinungen und die Vorstellung von einem anderen Europa als das von Rechtspopulisten propagierte.
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