Recto/Verso: Das „Schönste Deutsche Frauenportrait“ (1928) vs. „Russische Kathedralen“ (1946) von Heinrich Ehmsen.
Das beidseitig bemalte Gemälde “Skizze Portrait Lis Bertram-Ehmsen” (1927, verso) bzw. “Russische Kathedralen” (1946, recto) ist nicht nur zierendes Element in meiner Wohnung. Es steht auf einer alten Staffelei im Raum, und ist für den aufmerksamen Betrachter dadurch auch rückseitig einsehbar. Beide Seiten wurden vom Künstler Heinrich Ehmsen (1886-1964) in völlig unterschiedlichen Epochen ausgeführt – zum Einen in der Zwischenkriegszeit der Weimarer Republik, zum Anderen in der Nachkriegszeit des 2. Weltkrieges.
Ich erwarb das Gemälde vor knapp einem Jahrzehnt, um meine kleine Studiensammlung rückseitig verworfener Gemälde zu erweitern. Neben der spannenden Kunstgeschichte stellte v.a. auch die besondere Technik bzw. das verwendete Material einen Beweggrund für die Anschaffung dar: Es ist auf dem Holzwerkstoff Sperrholz in Öl-Emaillefarbentechnik und Gold-Polychromie ausgeführt. Die Maße betragen 60×48 cm (das Portrait ist im Hochformat ausgeführt), bzw. 48×60 cm (Querformat der Russischen Kathedralen).
Kunstgeschichtlich ist der beidseitig bemalte Bildträger in doppelter Hinsicht beachtenswert:
– Das nahezu vollständig ausgeführte Portrait “Lis B.” diente als Entwurf für das Ganzfigurenportrait “Lis B.”, das 1928 für den Georg Schicht-Preis für das schönste deutsche Frauen-Portrait nominiert – und neben werken Lotte Lasersteins, Gert Wollheims und Christian Schads in einer 32-seitigen Broschüre zur Wanderausstellung des Reichsverbandes bildender Künstler abgebildet wurde. Das nominierte, grossformatige Gemälde galt als verschollen. Der vorliegende Entwurf legt somit Zeugnis ab über die aussergewöhnliche Farbigkeit des verschwundenen Hauptwerks.
– Die weitere Besonderheit besteht darin, dass sich ein weiteres – von den Maßen und der Motivwahl her – sehr ähnliches doppelseitiges Gemälde im besitz der Neue Nationalgalerie (SMPK, Inv. AIII 441) befindet: während sich auf der verworfenen Seite eine weitaus weniger ausformulierte Skizze zu “Lis B.” (ebenfalls von 1927) befindet, zeigt die Kehrseite einen “alten Russen vor Kathedralen” (1932).
Ich bezeichne mein Bild als Lieblingsbild, da es von der Bildwirkung her und aufgrund der Maltechnik sehr außergewöhnlich ist, eine spannende inhaltliche Geschichte erzählt, und auch aufgrund seiner Beidseitigkeit eine Besonderheit darstellt. Als Gemälderestaurator hat mich das Werk ebenfalls in seinen Bann gezogen, und diente mir bereits in Fachvorträgen und Publikationen zur Präsentation rückseitig verworfener Gemälde (u.a. des Verbandes der Restauratoren und des ICOM-CC) als wichtiges Beispiel. Denn der vorliegende Fall macht besonders deutlich, dass die verworfene Gemäldeseite in kunstwissenschaftlicher Hinsicht wesentlich wichtiger ist, als die vom Künstler später ausgeführte “Haupt” – bzw. “Vorderseite”.
Während das Werk im privaten Raum auf einer Staffelei aufgestellt ist, würde ich es trotz der verschiedenen Ausrichtung beider Seiten im musealen Kontext auf einem beidseitig gleichermaßen einsehbaren Ständer oder Sockel präsentiert sehen.