Was wäre, wenn ich morgen aufwachte, und es gäbe kein Patriarchat mehr? So sehr ich versuche, mir diese schöne neue Welt in schillernden Farben vorzustellen, so wenig will es mir gelingen. Ich scheitere an den kleinen Dingen, meinem Tagesablauf in jener Wirklichkeit. Wie fühlte sich meine Morgenroutine an, ganz ohne Meditationen, Affirmationen, um die Glaubenssätze aufzulösen, als Frau nicht genug zu sein? Wäre der Fünf-Klingen-Rasierer endgültig aus meiner Dusche verschwunden und hätte ich, ein Kind der Neunziger, den Fetisch für die Glattheit meines Körpers verlernt?
Welche Art der Unterhaltung hörten meine Ohren auf dem Weg zur Arbeit, ohne ein Podcastangebot, in denen mir zwei Männer die Welt erklären? Was füllte die Nachrichten, wenn feministische Außenpolitik kein belächeltes Gedöns mehr wäre und es keine Kriege, kein Militär, keine Vernichtung mehr gäbe? Wie viel Raum könnte ich in einer U-Bahn einnehmen, ohne dass die Beine eines Mannes die Hälfte meines Sitzes beanspruchen, meine Schenkel bedrängen? Zu welchem Arbeitsplatz wäre ich unterwegs, würde ich nicht mehr als menschliche Ressource betrachtet? Wenn die propagierten flachen Hierarchien echter Empathie gewichen wären? Wie wäre es, wenn ein männlicher Kollege meine Schweißausbrüche in der Menopause bemerkte und wortlos verstehend das Fenster öffnete? Und nach der Arbeit, wo kaufte ich fürs Abendessen ein? Wäre Einkaufen noch Praxis, ohne Kapitalismus, der sich am patriarchalen Grundprinzip der Ausbeutung bedient? Gäbe es noch Geld?
Wie leichtfüßig machte ich mich in der Dunkelheit auf den Nachhauseweg, wenn ich keine Schritte mehr hinter mir heranzuzoomen und unter Herzklopfen den Gang um gerade so viele Schritte beschleunigen müsste, um dem Atem in meinem Genick zu entkommen? Schminkte ich mich, zu Hause angekommen, ab? Trüge ich in einer Welt ohne das Diktat des männlichen Blicks Make-up „nur für mich“, wie ich es mir heute einrede? Würde ich die ungeschminkte Frau im Spiegel wiedererkennen?
Darf ich mich Feministin nennen, mich mit den Federn jener großen Vordenkerinnen und Streiterinnen für eine Welt nach dem Patriarchat schmücken, wenn mir doch für dieses kleine Gedankenspiel die Vorstellungskraft fehlt?
Text: Katharina Linnepe – www.katharinalinnepe.com
Fotografie: Ellinor Amini – www.ellinoramini.com
Weblinks
Ich stelle mir ganz oft eine Alternative Welt vor. Wie viel freier alle wären. Und glücklicher. Danke für den tollen Beitrag ihr beiden 🥰
❤️
wichtiges Thema! Protest immernoch nötig. Ich finde eine einreichung, die sich mit den Themen Utopie und den Protest absolut auseinandersetzt und widmet.