Das ist Lulu, unsere Kartäuserkatze. Sie sitzt wo sie so gerne sitzt, auf ihrem Beobachtungsposten neben meinem Computer mit Blick in den Garten. Einige Vorgängerinnen und Vorgänger haben im Lauf vieler Jahre hier schon Posten bezogen und ihre Lebensspuren hinterlassen: Kratzspuren oben und auf den beiden Seitenbrettern; auch im Inneren, das wohl in Katzensicht einem schützenden Häuschen gleicht. Schaue ich den Hocker an, symbolisiert er auch meine Lebensspuren.
Der Hocker symbolisiert meine Studienjahre an der Hochschule für Gestaltung in Ulm.Wir trugen den Hocker vom sogenannten Wohnturm, der Studierende, junge Männer und Frauen von überall her in schöner Gleichberechtigung in je einer mönchischen Klause beherbergte, überall hin wo eine Sitzgelegenheit nötig war. Eine andere gab es nicht. Unter einem überdachten Durchgang mit weitem Blick ins Donautal ging es zur Mensa und die Treppe hinauf zu den Unterrichtsräumen und Werkstätten. Mit dem Hocker im Handgriff folgte man dem freien Fluss der Raumfolgen, aus einem funktionalen Guss entworfen, Architektur und Natur miteinander verbunden, eine Erinnerung, die im Kopf blieb.Wohnen, Studieren, Kommunizieren in einem.
Der Ulmer Hocker: ein Minimaldesign wie es minimaler nicht hätte sein können, wurde 1954 in den Werkstätten der Hochschule produziert nach dem Entwurf vonMax Bill gemeinsam mit Hans Gugelot und demWerkstattchef Paul Hildinger. Später zur Ikone funktionaler Gestaltung stilisiert, hatte der Hocker aus der finanziellen Mangelsituation, die den Auf- und Ausbau der Schule begleitet hat, ein Tugend gemacht: ein Allzweckhocker musste es sein für zwei Sitzhöhen, möglichst geringes Gewicht, billiges Material, dünne, an den Seiten verzahnte und verleimte Fichtenbretter. Der handelsübliche Rundstab zur Stabilisierung diente auch als Tragstange. So konnte man den Hocker umdrehen und wie eineTragtasche nutzen, Bücher und Utensilien jeglicher Art trockenen Fusses bei jeglicher Witterung transportieren. Mancherlei Verwendungszwecke kamen im Lauf der Jahre hinzu. Der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Lulu hat eine weitere Gebrauchsfunktion erfunden: Hochsitz für Katzen.
Ich betrachte „meinen“Ulmer Hocker, eines von drei der frühen Modelle, die ich aus meiner Jugend mitgenommen habe. Und ich sehe auch ein heute taugliches Lehrstück der Nachhaltigkeit. Der Hocker zelebriert seine Qualität dadurch, dass er eigentlich gar kein Designprodukt ist sondern ein solide und sparsam handwerklich hergestellter Gegenstand. High Tech kann das so ökonomisch nicht mehr nachvollziehen. Damals in Ulm war der Hocker auch ein Lehrstück wie ein Gebrauchsobjekt den geplanten Nutzen mit massgerechter Schönheit verbinden kann, d.h. sich aus seiner Funktion zu unser aller Freude menschengerecht entwickelt. Keine Eintagsfliege des Geschmacks. Der Ulmer Hocker verlor seine gestalterische Unschuld als er in den Markt eingeschleust wurde. Bereits die Version mit Schublade, noch von Max Bill entworfen, die einen höheren Nutzen avisierte war nicht mehr dasselbe.
Aber wir, Lulu und ich, besitzen noch das Wunderstück funktionaler Essenz! Etwas angejahrt und das bescheidene Fichtenholz nachgedunkelt, die Kratzspuren ein emotionaler Mehrwert, nur für uns ganz allein! Wir schauen zusammen in den Garten hinaus. Wenn Max Bill, auch ein grosser Tierfreund, uns gelegentlich besuchte erfreute ihn „sein“ Hocker mit den Kratzspuren. – Im Jahr 1983 konnte ich im (damaligen) Kunstgewerbemuseum Zürich die Ausstellung „Design – Formgebung für jedermann, Typen und Prototypen“ realisieren. Im Ausstellungskapitel “Hocker (Sitze)" war der Ulmer Hocker das Leitobjekt. Der letzte Satz in meiner Einführung zur Hockerfamilie: „Wer auf dem „Ulmer Hocker“ sitzt, der sitzt auf einer Design-Utopie“. – Meine liebe Lulu: Wie sitzt es sich auf einer Utopie?
Margit Weinberg Staber
Foto: Sascha Matthesius