Renate Schieß 2021
Der Text behandelt das 'Ankommen am See'
Das Schaf, das Huhn und der Schwan
Unter einer Weide saßen einst ein Huhn, ein Schaf und ein Schwan traulich zusammen. Es war ein wunderschöner Herbsttag, sonnig und mit warmer, weicher Luft, kein Blättchen regte sich. Es war, als hielte alles inne, um den Augenblick zu genießen. Nur die Möven und Seeschwalben flogen vorbei. Leise brummte ein Flugzeug hoch oben über den Wolken. Das Huhn gab leise kehlige Laute von sich.
„Wie gut es ist, wenn die Aufgaben des Tages erledigt sind“, sagte es. „Mein Ei habe ich gleich heute morgen schon gelegt.“
Sein Stall war nicht weit entfernt, und weil am Morgen jemand die Türe des Geheges aufgelassen hatte, war es ein wenig auf Wanderschaft gegangen. Nun freute es sich daran, in guter Gesellschaft über den See zu blicken, und alles was vorbeikam, mal von links und mal von rechts zu beäugen.
„Schau den Fischer“, fügte der Schwan an. „Jetzt steht er in seinem Boot. Vielleicht hat er etwas gefangen?“
„Ach, ich weiß nicht“, setzte das Schaf die Unterhaltung fort. Es blinzelte zum kleinen Boot hinüber, das schon die längste Zeit dort unweit vom Ufer stand. „Ich glaube, er will nur den Nachmittag ruhig verbringen. Es wird ihm nicht wichtig sein, etwas zu fangen.“
Es hatte Erfahrung darin, Nachmittage ruhig irgendwo zu verbringen. Auf einer Wiese im Schatten eines großen Baumes zum Beispiel. Von allen drei Tieren war es bestimmt das entspannteste. Dass das Huhn etwa schon so lange da saß, war wirklich erstaunlich. Es war ja sonst immer am hin- und herlaufen, picken und scharren, selbst beim Sandbaden plusterte es sich immer wieder auf und regte sich.
„Ich glaube, ich muss wieder zurück“, meinte es nun.
„Sag schöne Grüße!“ – der Schwan war höflich. Doch dann erhob er sich auch und bewegte sich gemessen zum Wasser.
„Tschüss!“ sagte er zum Schaf und glitt davon. Draußen auf einer kleinen Kiesbank traf er einen Schwanenkollegen und die beiden fingen an, sich zu putzen, schüttelten sich halb eintauchend unters Nass, schlängelten ihre langen Hälse über das Gefieder und strichen es glatt. Schließlich schwammen sie wieder, frisch frisiert, in entgegengesetzten Richtungen davon.
Alleine unter der Weide zurückgelassen, fing das Schaf an zu träumen. In seinen Augen spiegelte sich der See, das gegenüberliegende Ufer, und ein Segelboot, das weiter draußen vorbeizog.
In seiner Seele aber entstanden in der außergewöhnlichen Stille dieses Tages wieder einmal die Bilder seiner Heimat. Es war nämlich ein holländisches Texel-Schaf, in dessen Gemüt die Gezeiten der Nordsee rauschten und ein salziger Wind über die Deiche strich.
Die angenehme Gesellschaft der beiden Vögel hatte jedoch sein Verlangen nach dem Norden beruhigt.
„Ach was“, dachte es. „Meer ist Meer. Ein kleines Meer macht auch Wellen“. Und wie zur Bestätigung erhob sich ein sanfter Wind, der die Wasseroberfläche liebkoste. Und in der Seele des Schafes vermischten sich die Bilder vom großen und vom kleinen Meer zu einer neuen Vorstellung von Zuhause.
Beim Lesen dieser schönen Geschichte konnte ich mich enspannen und kurz vom arbeitsreichen Tag erholen, vielen Dank!