»Twin of Lost Calla de Marais« ist der digitale Zwilling der Stahlskulptur »Lost Calla de Marais«. »Calla de Marais« ist der französische Name jener Pflanze, die auf Deutsch Sumpf-Calla, Drachenwurz oder Schlangenkraut genannt wird. Die geschützte Pflanze kommt heute noch in den Vogesen vor. Sie hat die Künstlerin zu einer plastischen, großen Form inspiriert, die sich wie eine Raumzeichnung und Bewegungslinie entfaltet, raumgreifend und beherrschend, und zugleich Freiraum lassend. Gemacht wurde sie 2013 für den Raum der Galerie Intuiti im Pariser Künstlerviertel Le Marais, eine bewusste Koinzidenz im Namen.
Die acht Meter lange Stahlskulptur entwickelt sich aus einer sich erweiternden Linie, deren größte Ausdehnung eine übermannshohe Unendlichkeitsschleife bildet, von der aus sie sich in einer selbstreferentiellen Bewegung in eine sich verjüngende Linie von Unendlichkeitsschleifen erhebt. »Lost Calla de Marais« ist im Grunde nichts anderes als eine Linie – eine mit zügiger Hand hingeworfene Abfolge von Schleifen.
Gleichzeitig ist sie eine monumentale Skulptur von beeindruckenden Dimensionen in Stahl gearbeitet, die ein großes Raumvolumen zu bestimmen vermag. Aber sie hat noch einen dritten Aspekt: sie hebt sich selbst auf. Durch ihren phosphorisierenden Anstrich verwandelt sich die Skulptur in der Dunkelheit zu einer Spur aus Licht. Raum und Fläche, Begrenztheit und Unendlichkeit, physischer Körper und Lichtstreif sind die Dimensionen, die sich hier begegnen.
»Twin of Lost Calla« von 2019 überführt diese Arbeit in den digitalen Raum und löst das Verhältnis von grafischem zu physischem Element weiter auf. Der Raum ist nur noch Information ohne haptische Dimension – ein Surrogat von Wirklichkeit – wodurch die Skulptur, ohne Gewicht und ohne konkreten Ort eine Unendlichkeitsschleife im unendlichen Raum des Virtuellen wird. Die Grenze zwischen grafischem Gestus und räumlicher Realität ist bis zur Auflösung verschwommen.
Konkrete Gegenwart erlangt die Plastik nur durch eine geografische Raum-Koordinate und technische Geräte (VR-Brille, AR-Anwendungen), die den perzeptiven Zugang überhaupt erst eröffnen.
Die »Twin« Skulptur ist ein virtueller Klon, dessen visuelle Verortung durch die Bestimmung von hochglänzenden Oberflächentexturen simuliert wird. Die Spiegelung auf der Oberfläche spielt mit der eigentlichen räumlichen Bedingung einer Umgebung. Aber wie alles im Virtuellen bleibt auch die Umgebung nur Option. Die »Twin Calla« kann auf ihrem Auflösungsweg des Wirklichen auch die reale Umgebung des Ausstellungsortes reflektieren, nur dass die Möglichkeiten der Umgebung wiederum unendlich sind. Als letzten Schritt der Auflösung ihrer ursprünglichen Physis wird die »Twin of lost Calla / ray« dann zur Lichtspur. Wie ihre physische Schwester, die im Dunklen zum Lichtstreif wird, löst sich die Variante ray zur Lichtspur auf. Die Frage nach dem »Was ist das?« führt ins Offene. Der Raum der Antworten umfasst Positionen wie »Idee«, »Erinnerung«, »Symbol«, »Zeichen«, »Objekt«, »Werk«, »Skulptur«, »Spur« und bleibt zu erkunden.
Angela Murr, Januar 2019
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