Ästhetische Intelligenz:
Spiegelung von Objekt und Subjekt in Julia Dolls Naturbildern
„…denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht.“
Rainer Maria Rilke, Archaischer Torso Apollos
Julia Dolls Spiegel-Bilder senden bei aller dionysischer Rauschhaftigkeit ein apollinisches „Achtung!“ Der Effekt: Wir sehen und reflektieren gleichzeitig. Das ist offensichtlich in der Traditionslinie von Rilkes Phänomenologie zu verstehen:
Projektion! Spiegelung! Ent-Täuschung!
Die Botschaft: Natur ist mehr als wir in ihr sehen. In uns selbst waltet die evolutionäre Intelligenz von Milliarden Generationen vor uns – gesteigert im kreativen Schöpfungsakt, gesteigert zur ästhetischen Intelligenz. Die Kunst zieht uns vertikal auf Gipfelhöhen, die eine „künstliche Intelligenz“ der Maschinenwelt niemals erreichen kann.
„Back to the Roots“, „Heimat“, „Zurück zum Ursprünglichen“ – das hat Konjunktur. Doch das sollte, bitte, schon etwas mehr sein als pure Negation unserer zivilisatorischen Beschränktheit. Zu einfach: „Der Wald“ erlebt eine Renaissance. Gerade der „Deutsche Wald“. Wenn hier ein antirationaler „Rousseauismus“ der ökologischen Neo-Romantik ältere Lieder anstimmt, dann ist das nicht Julia Dolls Interesse.
Sehen wir genauer hin! Das mahnt uns die misstrauische Künstlerin. Schon physiologisch sind alle Farben nicht „die Realität“, sondern ein Produkt unseres Sinnesapparates; gefiltert, durch die Linse unseres Auges auf den Kopf gestellt, gespiegelt im Augenhintergrund, durch die Sehzellen dekonstruiert und dann zerebral wieder neu zusammengesetzt, über Jahrtausende bedeutungssedimentiert unter dem Gewicht der tektonischen Schichten unserer Wahrnehmungsgeschichte. Wir sind viel mehr Natur und Kultur, als wir denken.
Julia Doll vermittelt keine Utopie der Blauen Blume der deutschen Romantik, sondern eher ein Störgefühl, wenn wir uns aufschwingen „die Umwelt zu schützen“ oder „das Klima zu retten“. Homo sapiens, zugleich Krönung und Krebsgeschwür der Evolution, tritt auch hier als Agens auf. Das Beherrschenwollen, das Unter-Kontrolle-Bringen bleibt selbst mit den besten ökologisch motivierten Absichten eine Selbstüberschätzung. Im „Anthropozän“ definieren wir uns blind von Selbstverliebtheit als Subjekt, das gegenüber dem Objekt der Natur eine Verpflichtung habe. Wie die Mutter zum Kind. Das wird Mutter Erde kaum gefallen.
Deshalb das Spiegelmotiv als Provokation.
„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Klügste im ganzen Land?“
Julia Doll delegiert die Frage an uns zurück. Ihre Kunst mahnt den Betrachter als Betrachteten zu mehr Demut. Gaia spricht: Sehet euch selbst! Die Muse fordert: Erkenne dich selbst! Wir müssen uns an erster Stelle selbst retten, um die Welt zu gesunden.
Der erste Schritt ist die Blickumkehr: Denn nicht wir sind das Auge der Welt, sondern die Natur sieht uns an wie das Spiegelbild des Narziss. Das Kunstwerk sieht uns an und nicht umgekehrt. Der Lehm formt die Töpferin. Das Instrument spielt die Musikerin. Die Farbe dringt in die Malerin ein.
Zudem reflektiert Julia Doll mit ihren Naturbildern ihre eigenen Ursprünge im Schwäbischen unweit von Ulm, an Iller und Donau. Die große Sehnsucht: Daheim zu sein, endlich angekommen – Heimat als Ruhe in Frieden durch existentielle Verschmelzung. Wir sind Nomaden der Globalisierung. Flüchtlinge auf den Schutthalden der Moderne. Junkies der Optionen.
Die große Kunst: Heimat mehr als eine Suche gedacht als ein Zustand. Dabei hilft die Kunst als Spiegelung unserer Zerrissenheiten, als Fascinosum und Tremendum. Ein Spiegelkabinett ohne Ausgang.
„Natur, Mensch und Kosmos im Einklang“ erinnert an die Sehnsucht Hölderlins, des Sängers der Spaltung und Wiedervereinigung, des Botschafters aus dem Land der Freude und des Leidens in uns allen – zumal als Künstler:
„Eines zu sein, mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit…“
Von Heimat träumt, wer sie verloren hat.
(Text: Christian Schoppik)
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